Über eine wissenschaftliche Abhandlung eines VW-Vorstandsmitglieds, die eine Glosse sein soll

Klaus Kocks hat sie geschrieben. So steht es geschrieben. Aber eigentlich sollte man schon Dr. Klaus Kocks sagen. Und inzwischen gibt es auch Briefbogen, von ihm versendet, auf denen Prof. Dr. Klaus Kocks zu lesen ist. Denn Klaus Kocks ist inzwischen Gastprofessor. Und anläßlich seiner Ernennung (am 18. Dezember 1997) hat er eine Rede geredet, lt. Vorwort, "eine Glosse zur Panfiktionalität der konstruktivistischen Publizistik". Sie trägt den Titel: "Das Gnomonische Prinzip". Und weil dieses Thema den Journalisten und den Journalismus betrifft und behandelt, sei nachstehend davon berichtet. Weil es auch etwas aussagt über die Einstellung des Vortragenden. (Bitte Fremdwörter-Lexikon bereithalten!)

Über "hochkomplexe, dezentralisierte, nicht homogen steuerbare, überdeterminierte und extrem fraktale Systeme"

98-07-31/01. Es geht also um Publizistik. Es geht um Journalisten und Journalismus. Es geht um das, was Dr. Klaus Kocks dafür hält. Es macht Spaß, diese Rede einmal nachzulesen. Sie ist wunderbar formuliert, ist exakt so, wie man sich die Rede eines Professors vorstellt: ein wenig unverständlich. Und manchmal so wunderbar doppeldeutig. (Aber so sicher nicht gemeint.)

Schon der erste Satz ist ein Knüller. Man denke nur an so manch versuchte Verschleierungstaktik bei Produktionsanläufen oder Rückrufaktionen bei VW. Dr. Kocks sagt: "Notbehelfe sind oft enthüllender als perfekte Lösungen, zeigen sie doch die Grenzen des Unternehmens im Versuch, diese zu überwinden."

Und mit einem kleinen Umweg über "die griechische Tragödie" (ein wenig Homer und Sophokles in Verbindung mit Teichoskopie machen sich immer gut), kommt Dr. Kocks dann zum Journalisten, wie er ihn sieht. Zitat: "Er weiß alles, was er auf seinem Reuters-Schirm lesen kann. Er ist als Journalist ein Zeitzeuge des Hörensagens, dem er aber mit flottem Vortrag den Anschein des Authentischen zu verleihen weiß."

Und Dr. Kocks kommt auch gleich zu dem von Journalisten geschaffenen Druckergebnis: "Das ist es, was wir von Zeitungen haben, den Anschein des Authentischen. Fremdes, Neues, Wahres, Wirkliches wird uns so dargeboten, daß das häusliche Setzei mit Bratkartoffeln wieder in die Welt, die ganze Welt paßt." (Anmerkung: er hat nicht die des Springer-Konzerns gemeint.)

Der Idealvorstellung des Herr Dr. Kocks würde es sicherlich (als Öffentlichkeitsvorstand von VW) entsprechen, wenn die Meldung auf dem "Reuters-Schirm" von ihm vorformuliert war. Denn später stellt er sehr richtig fest: "Wichtig ist nicht die Wirklichkeit ... wichtig ist die Auffassung, die wir von ihr haben." - Und die Öffentlichkeitsarbeiter der Automobilfirmen vermitteln uns schon die richtige Auffassung. Klar.

Aber da gibt es ja noch eine andere Art von Journalismus. Auch dazu hat uns Dr. Kocks etwas zu sagen, wenn er fragt: "Welche Rolle spielt der sogenannte Investigative Journalismus?" - Seine Einstellung dazu wird schon mit dem nächsten Satz deutlich: "Er ist ja weder mit der intellektuellen Freude an Kritik noch mit der philiströsen Abneigung gegen jedes Nachdenken hinreichend eingegrenzt."

Dr. Kocks spricht in Verbindung mit dem Begriff "investigativer Journalismus" dann von "muckraking", "Dreck aufwirbeln", bringt ihn in Zusammenhang mit "Sensationspresse", "Paparazzi" und "Sensationsgier".

Es ist ihm aber nicht verborgen geblieben: "Es gibt die große, gesellschaftspolitisch bedeutende Aufdeckung." Er nennt dann ein paar Beispiele, wie Watergate, den Neue-Heimat-Skandal, die Barschel/Engholm-Geschichte, um zu der Feststellung zu gelangen:

"Dies alles ist suspekt, jedenfalls nicht frei von Ambiguitäten. Ambiguitäten, die für die

eine Seite eben die hehre Gratwanderung des Berufstandes ausmachen, die für die andere Seite die moralische Fragwürdigkeit der Journaille beschreiben."

"Was soll und darf die Presse?", fragt Dr. Kocks. Um gleich die Antwort zu geben: "Zu vermitteln zwischen verlegerischem Interesse auf der einen und Gemein- wie Individualwohl von Berichterstattungsobjekten oder Lesern auf der anderen Seite hätte Publizistik."

Schön ausgewogen also. Wobei er - und ich unterstelle das einfach mal - das verlegerische Interesse wohl mit kaufmännischem Interesse gleichsetzt. - Oder ist das anders gemeint, Herr Dr. Kocks?

Gegen Ende seiner Rede kommt das VW-Vorstandsmitglied dann zum "publizistischen Imperativ", wenn er ausruft: "Laßt uns die Hintergrundgeschichte schreiben! Laßt uns die Hintergrundgeschichte der Hintergrundgeschichte schreiben! Entwickeln wir die Kunst des Zweifelns, die höchste aller publizistischen Tugenden. Erzählen wir zu einer alten Geschichte eine neue, zum Märchen die Wahrheit, die morgen schon selbst wieder Mythos ist, den wir entschleiern werden. Nichts stimmt wirklich, nichts stimmt endgültig. Der größten Selbstverständlichkeit wird auf die Schulter geklopft. Widerlegen wir den Irrtum von gestern und bereiten den von morgen vor."

Wie vorweg geschrieben: Dr. Kocks nennt seine Rede "eine Glosse". Wenn man sie gelesen hat, weiß man mehr über Dr. Kocks und kennt auch den "Ausweg aus dem erkenntnistheoretischen Dilemma der konstruktivistischen Publizistik, der hier anempfohlen wurde". Es "ist natürlich eine Flucht".

Dr. Kocks hat viel gesagt, alles war wohlausgewogen, es liest sich beeindruckend wissenschaftlich. Aber wieso habe ich beim Lesen oft an Heinrich Böll denken müssen? Da gibt es doch den schönen Titel... - Ach, Sie wissen schon!

Wenn sich Dr. Kocks so "als Publizist über die Publizistik" äußert, empfindet er sich - "ohne jeden Anflug von Minderwertigkeit" - als "Gnomon, dies mit ständischem Stolz, aber auch nicht mehr."

Und seit dem 18. Dezember 1997 ist Dr. Kocks nun Gastprofessor der Donau-Universität Krems (Europäische Journalismus Akademie). - Da kann man was lernen. In jedem Falle für´s Leben. Vielleicht nicht so sehr Journalismus. - Oder doch? - Oder nicht?

MK/Wilhelm Hahne